DAS NEUE KLEID

 

 

An einem wunderschönen Tag zu Frühlingsbeginn entschloss sich die Nähe einen Schritt vor ihre Tür zu wagen.

Langsam kroch sie aus ihrem Versteck, streifte ihren schweren Schutzmantel ab, welchen sie sich eigenhändig angefertigt hatte. Er bestand aus vielen kleinen Stücken der Angst, sorgfältig miteinander verbunden, in lieblicher Kleinstarbeit zu einem wunderschönen Ganzen geformt, ein wahres Meisterwerk der Kunst.

Es stellte sie vor eine große Herausforderung den Umhang abzustreifen, soviel Sicherheit bot er ihr, ihr ganzes Leben lang. Es fiel ihr schwer diesen einfach zurückzulassen, ohne ihn fort zu gehen.

 

Anfänglich zögerte sie, aber schließlich machte sie ein paar kleine Schritte vorwärts im weichen sanften Gras.

Wie gut sich das anfühlte, so zart, so anschmiegsam, so neu.

Es war kaum zu fassen, wie leichtfüßig sie sich, ohne der Last der Angst auf ihren Schultern, bewegen konnte.

Dieser Umstand stimmte sie fröhlich, erzeugte eine sich sehr angenehm anfühlende Aufregung und erweckte ihre Neugierde.

Sie ging weiter, erreichte eine große Wiese mit vielen bunten Blumen, hohem sanften Gras, welches der leichte Wind über ihren Körper tanzen ließ.

Sie genoss es vom Wind gekitzelt zu werden und verweilte einige Augenblicke in seinen sanften Berührungen.

 

Die Nähe wurde aus dieser Vollkommenheit gerissen, als ihr der Wind ein lieblich klingendes Summen in ihre Ohren zauberte, welches  sie in ihrem Herzen berührte. Sie wagte es zu ihrer eigenen Verwunderung dem Ruf dieses Gefühls zu folgen.

Je näher sie kam, desto weiter entfernt erschien ihr ihre Angst und sie fühlte magische Anziehungskraft von diesem Ort.

Sie kam näher und  sah einen Jungen am Boden liegen, hielt einen Augenblick inne, nahm einen tiefen Atemzug ehe sie hervortrat und, dem Vertrauen gegenüberstand.

 

Das Vertrauen strahlte über das ganze Gesicht, hatte ein so inniges, wunderschönes Lächeln auf den Lippen und begrüßte sie mit einem herzlichen „HI“.

Die Nähe war überrascht, verwundert und ein klein wenig aufgeregt, da sie nicht genau wusste was da plötzlich passierte mit ihr, in ihr.

Sie kannte diese Regung nicht, dieses angenehm, wohlige Gefühl, welches sie überall durchflutete, durch sie hindurchströmte und gleichzeitig erschrecken ließ.

 

Sie machte zwei Schritte zurück, da ihr dieser Zustand völlig neu, fremd und dadurch beängstigend war. Am liebsten hätte sie ihren Mantel übergeworfen, der ihr so vertraut war, sie immer und überall beschützte, hinter dem sie sich verstecken konnte. Dieser war jedoch nicht greifbar und sie fühlte sich hilflos und nackt.

 

Das Vertrauen bemerkte ihre Unsicherheit, das ängstliche Zurückweichen und blieb ganz ruhig, lächelte ihr sanft entgegen, stand langsam auf, neigte den Kopf zur Seite und streckte ihr beide Arme entgegen.

 

Die Nähe fühlte sich, als würde ihr ein leichtes, wallendes, weißes langes Kleid übergeworfen.

Sie empfand sich zart berührt und beschützt von dem federleichten Stoff des Vertrauens und machte einen Schritt darauf zu, streckte ihm ihre Arme entgegen und berührte zärtlich dessen Finger.

Das Vertrauen erwiderte diese so innige Berührung und beide spürten die Liebe, die Liebe zu sich Selbst, die Liebe des Anderen, die Liebe als Ganzes, Allmächtiges und Vollkommenes, ein Gefühl wie niemals zuvor erlebt.

Sie verweilten viele tausend Augenblicke, sich anblickend und schweigend, in diesem Gefühl.

 

Die Nähe wusste seit dieser Begegnung, dass sie den schweren Mantel der Angst nicht mehr zu ihrem Schutz benötigte.

Von nun an trug sie das leichte wallende weiße lange Kleid des Vertrauens, welches sich sanft an ihren Körper schmiegte.

 

Inge im Juni 2013

 

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