DIE MÖNDIN MARAMA

 

Eines Abends fasste sie all ihren Mut zusammen, erstellte sich ein Profil bei einer Literaturplattform, um aus ihrer Einsamkeit zu flüchten und über das Schreiben, eine für sie sichere, nahe und doch distanzierte Art der Kommunikation, neue Bekanntschaften zu machen.

Sie wählte das Pseudonym Marama, Mond in der Sprache der Ureinwohner Neuseelands, ihrem Lieblingsland, ihrem Lieblingswort, ihrem Lieblingshimmelskörper, ihrem Wegweiser und ständigem Begleiter.

 

Es dauerte nicht lange, als ihr Laptop ein Bling von sich gab, eine erste Nachricht in ihrem virtuellen Briefkasten landete.

Sie zögerte ein wenig, war nervös, um schließlich die Botschaft eines Unbekannten zu öffnen. Der Absender hieß Euan. „Interessanter Name“, dachte sie bei sich und las seine ersten Worte „ Hi, was denkst du gerade?“

Marama antwortete spontan: ” Was ich dir jetzt antworten werde.“

Diese beiden kurzen und doch persönlichen Wortwechsel waren die Eintrittskarte in eine noch nicht existierende Zauberwelt, der Beginn einer sanften Annäherung, vorsichtiges Eintauchen in die Gefühlswelten zweier sich völlig fremder Seelen.

 

Ihre erste Begegnung entpuppte sich als witzig, interessant und vertraut. Es entwickelte sich von Beginn an ein unsichtbares Band, eine unausgesprochene Zuneigung, eine innige Verbundenheit, welche beiden schmeichelte, sie aufwühlte und aneinander denken ließ.

Der Austausch ihrer Gedanken, Gefühle, Wünsche, Sehnsüchte und Träume führte sie in eine wunderschöne selbst gestaltete magische Welt, die sie Nächte lang durchstreiften, erkundeten und in der sie ständig neue Gebiete entdeckten, die sie noch nicht voneinander kannten.

 

Euan war Bogenschütze, liebte es durch den Wald zu laufen, sich vom Wind berühren zu lassen, seinen Pfeil in Richtung Marama zu schießen, hochzublicken und ihr Leuchten in sich aufzunehmen.

Marama liebte es, Euan bei seinen Erkundungstouren zu begleiten, ihm ihr schönes strahlendes  Licht zu zeigen, seine leichten Bewegungen im sanften Gras zu beobachten und in sein reines Herz zu blicken.

 

Sie verbrachten Nächte miteinander, warteten sehnsüchtig auf eine neue Botschaft des Anderen, um immer weiter in ihre Seelenlandschaften vorzudringen und einzutauchen in eine niemals erträumte Zauberwelt.

Sie fühlten sich sicher und geborgen in ihrem gemeinsamen Raum, er bot ihnen Schutz, hier war es möglich sich in allen Facetten zu zeigen, ohne Scham und Angst ihr Innerstes nach Außen zu tragen und sich zu öffnen.

Marama fühlte eine tiefe Verbundenheit zu Euan, welche sie sehr lange nicht mehr zugelassen hatte. Aus Angst vor Verletzung hatte sie einen schweren Schutzmantel übergeworfen, welcher sie die letzten Jahre ständig begleitete. Euan wusste von diesem Umhang und ging sehr achtsam und rücksichtsvoll mit diesem um.

Er empfand eine wohlige Wärme für Marama, sie hatte sein Herz berührt.

 

So vergingen drei Monate. Sie trafen sich fast jeden Abend zu einem Plauderstündchen, tauschten sich aus, vermissten einander wenn sie einen Tag nichts voneinander lasen. Marama und Euan unternahmen gemeinsame Spaziergänge in ihre so ähnlichen Gefühlswelten, machten Ausflüge in sonnige Zeiten des Daseins, schlenderten durch finstere Täler ihrer Seelen, erkundeten alltägliche Lebensräume und kamen immer wieder zur farbenfrohen bunten Blumenwiese wo sie Rast einlegten, miteinander scherzten, lachten, sich umarmten und sanft berührten.

 

Irgendwann keimte der zarte Samen auf, sich in der Anderswelt, der Realität zu treffen. Sie tasteten sich langsam an diesen Gedanken heran, vorsichtig und gefühlvoll. Der erste Schritt war das Austauschen von Fotos.

Marama war tief berührt von Euan´s Erscheinung und hätte nicht gedacht, dass er ein so schöner Mann war. Sie mochte seine blauen Augen, die zarten Wangenknochen, seinen Bart und die langen Haare. Sein Gesicht spiegelte seine in hunderten von Nachrichten enthaltene Gefühlswelt wieder.

Euan war überwältigt von Maramas strahlenden Augen, ihrem schönen Mund, ihrem Lächeln und ihrer unbeschreiblich anmutigen Ausstrahlung. Sie war noch lieblicher, als er sie sich in seinen Gedanken ausmalte.

 

Trotzdem hatten beide Zweifel, ob sie außerhalb ihrer so perfekten Zauberwelt bestehen könnten, sie den Erwartungen des Anderen entsprachen und setzten vorerst ihre nächtlichen Zusammenkünfte in ihrer vertrauten Umgebung fort, durchstreiften die Landschaften ihrer Ängste und Unsicherheiten sich im realen Leben zu treffen und beschlossen, sich in der Mitte all dieser Empfindungen zu begegnen.

Sie wählten einen Park, eine wunderschöne Gartenanlage bei einem Schloss, um dort durch das Tor in die Anderswelt zu treten.

 

Marama stürzte nach dem Festlegen dieser Verabredung in ein Emotionsgewitter, einen heftigen Sturm von Gefühlen mit Sonne, Regen und starkem Wind gleichzeitig. Ihr strahlender Schein drohte zu verblassen, sie verlor die Kraft zum Leuchten und begann sich ganz schnell zu drehen, so durcheinander brachte sie der Gedanke Euan, ihren Bogenschützen, von Angesicht zu Angesicht zu treffen.

Marama hatte noch nie in ihrem Leben ein so heftiges und intensives Gefühl der Angst, obwohl ihr der Verstand sagte, dass ihr absolut nichts passieren konnte, schaffte es ihre zerbrechliche Seele nicht aus diesem Gefühlsgefängnis auszubrechen, sich hinaus zu wagen in die Welt der wahren Empfindungen, der realen Begegnung zweier gefundener  Seelen, die sich so vertraut waren, eine so aufrichtige Herzensliebe zueinander fühlten.

 

Euan meldete sich abends und Marama zögerte ihm zu antworten, ihre Gefühle darzulegen. Sie wagte es kaum auszusprechen, ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie ihm mitteilte, dass sie morgen nicht kommen möchte, sie ihren Mantel der Angst nicht ablegen konnte. Euan war traurig diese Nachricht empfangen zu haben, ihr Inhalt, die Botschaft dieser aneinander gereihten Wörter löste in ihm ein beklemmendes Gefühl aus, fühlte sich schwer wie Blei an.

Marama war erleichtert, hatte ein Gefühl von Leichtigkeit, spürte eine große Last von sich fallen, als sie sich in dieser Nacht von ihm verabschiedete. Sie konnte allerdings nicht einschlafen, wälzte sich hin und her, stand nochmal auf und setzte sich an ihren Laptop.

 

Euan, du unbekannter Bogenschütze, der mir so vertraut ist.

Du bist ein so schöner Mensch, obwohl ich dich nicht kenne.

Ich weiß zwar wer du bist und trotzdem bist du mir fremd.

Ich mag deine so wundersamen Gedanken, welche du mir auf so liebliche Art zeigst, kann sie allerdings nicht einordnen in meiner Vernunftwelt.

Ich fühle mich dir so verbunden, so nah und doch so weit entfernt von dir.

Ich  amüsiere mich über deinen so besonderen Humor und kann nicht mit dir lachen.

Ich vermisse dich, wenn du nicht da bist und kann mit deiner Anwesenheit nicht umgehen.

Ich liebe es, durch unsere Zauberwelt zu streifen und für dich zu leuchten, um dir den Weg zu zeigen und schaffe es nicht dich in meine Richtung zu lotsen.

Ich bewundere deine Fertigkeit der Bogenkunst, deine Ruhe den Bogen zu spannen und mit dem Pfeil in mein Herz zu zielen, lasse diesen allerdings nicht ankommen, sondern lenke ihn an mir vorbei.

Ich empfinde großes Vertrauen zu dir und stoße dich von mir weg.

In meinen Gedanken berühre ich dein Gesicht mit meinen Fingern und dort fühlt es sich wunderschön an.

Ich bin froh dich gefunden zu haben und schaffe es nicht dir zu begegnen.

 

Es ist ein so schönes Gefühl dich bei mir zu haben in dieser kleinen Zauberwelt, wo wir uns auf so innige Art und Weise nahe sind, ohne in Gefahr zu laufen dem Anderen weh zu tun oder zu verletzen, sich offen und frei, auf einer der vielen Begegnungswiesen zu berühren, den Wind auf der Haut zu spüren und unter dem Leuchten von Marama bis in die Morgenstunden zu tanzen, einzuschlafen und zu träumen.

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Zauberwelt unserer Anderswelt standhalten kann, ob nicht ihr Glanz, ihr Zauber, ihre Magie sich in Luft auflösen und verschwinden wird.

 

Vielleicht sollten wir uns damit begnügen uns weiter hier zu treffen, uns unsere Anderswelten erzählen, als ob wir uns gegenüber sitzen, von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz, aus unserem tiefstem Selbst und sich erst dann, wenn es die Zeit will, das Gefühl es zulässt, einen Schritt hinauswagen, vom so fruchtbaren Boden unserer gemeinsam erschaffenen Zauberwelt in die Anderswelt, uns dort begegnen, spüren ob die nährreiche Erde des Vertrauens, der Nähe, der Wertschätzung ausreicht, um diesen Samen zum Keimen zu bringen, oder aber in unsere kleine Zauberwelt zurückkehren, mit der Gewissheit, dass wir dort behütet aufgehoben sind für alle Zeit der Welt!

 

Euan, du unbekannter Bogenschütze, der mir so vertraut ist, entlockst mir diese Gedanken.

 

Sie las diese Zeilen immer und immer wieder bis sie sich schlussendlich durchringen konnte und auf Senden drückte. Maramas Licht verschwand langsam in der Dunkelheit dieser Nacht bis sie nicht mehr am Himmel zu sehen war.

 

 

Inge im April 2015